Teilhabe, Tango, Trialog – und die Psychiatrie?
„Nur nicht bange machen lassen“, lautet der Titel eines Beitrags von Susanne Heim. Frau Heim, das stelle ich in meiner Recherche fest, ist heute 88 Jahre alt und wird bald mit mir auf der Bühne stehen. Schon allein dieser Tatbestand ist besonders.
Als ich die Dame dann am Telefon habe, bestätigt sich mein Verdacht, es mit einer ganz besonderen Persönlichkeit zu tun zu haben – und ich werde meiner Freundin, die mich für die Tagesmoderation dieser Veranstaltung engagiert hat, später zurufen:
„Mensch, das ist ja mal gewaltig, wen ich da alles moderieren darf!“
Es geht um eine Tagung, die medial wenig, vermutlich keine Beachtung finden wird. Zu sehr sind die Medien damit beschäftigt, über all das, was im Leben nicht funktioniert, zu berichten: Unfälle, Katastrophen, Kriege. Schon im August, zum Vorgespräch dieser Veranstaltung, antwortet der Mann, der am Ende der Tagung als ein Abteilungsleiter im Kölner Gesundheitsamt verabschiedet werden soll, auf meine Frage, wie er denn die Zukunft sieht: „Finster.“
Was ich für Ironie hielt und deshalb herzhaft lachte, stellte sich später als wahr heraus. Denn eigentlich erwartet es Dr. Matthias Albers noch schlimmer … doch bevor ich hier nun auch schwarz male, möchte ich lieber das herausstellen, was leuchtet.

Wie eben Susanne Heim. Die bereits vor 40 (!) Jahren den Verein „Rat und Tat“ mitgründete (das MIT ist ihr bis heute wichtig) und über Jahrzehnte Angehörigengruppen aufgebaut und die Kölner Initiativen für seelische Gesundheit maßgeblich mitgeprägt hat — dafür wurde sie u. a. mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt.
Warum bin ich so begeistert von dieser Frau, die mir gesteht, in den meisten ihrer Träume „nie angekommen zu sein“? Warum spreche ich sie nicht auf das Bundesverdienstkreuz an? Und warum ist es rührend, wenn sie meint, eigentlich seit 40 Jahren „den gleichen Scheiss“ zu monieren?
Es ist eine Haltung, die mir in den 51 Minuten unseres Telefonats entgegenspringt, die heutzutage eher selten zu finden ist: Demut. Natürlich ist Susanne Heim eine mutige Frau, wenn man allein nur eine Rede liest, die sie mir freundlicherweise zur Verfügung stellt. Darin bezeichnet sie die Angehörigen psychisch kranker Menschen – um genau diese Gruppe kümmert sich Rat und Tat e.V. – als „hilfreiche Störenfriede im Elfenbeinturm psychiatrischer Fachkompetenz“. Und angesprochen von mir, ob es diesen Turm denn immer noch gebe, verweist sie darauf, wie „eingeschlafen“ sie die heutige Situation sehe. Leider sei nach der Corona-Zeit viel zu wenig passiert, mehr noch: Vieles doch arg in Richtung Verwaltung abgedriftet.
Ich möchte darüber nicht urteilen, sehe ich doch auch – das erbringen viele weitere Vorgespräche zur Tagung – wie engagiert viele Menschen sind. Und deshalb freue ich mich auch sehr darauf, die Veranstaltung zu moderieren. Wohl wissend, dass da Dutzende von Experten aus dem Bereich der Erwachsenenpsychiatrie sitzen und diskutieren werden, die so viel mehr vom Thema verstehen als ich. Aber genau deshalb bin ich ja auch so gespannt.

Wenn zum Beispiel der renommierte Psychologe Prof. Thomas Bock spricht. Gemeinsam mit Dorothea Buck gründete er bereits 1989 das Psychoseseminar, das den Trialog begründete. Bock wird die Psychiatrie-Enquete nach 50 Jahren in den Blick nehmen und sie als TANGO vorstellen: Schritte vorwärts, seitlich und zurück. Was muss heute verändert werden in Versorgung und Politik, so seine Frage. Sicher dringlicher als je zuvor, möchte ich annehmen. Eins seiner Themen ist die Tragik, dass Psychose-erfahrene Menschen so oft „ins Nichts“ entlassen werden. In einem Interview wird er mehr als deutlich: „In manchen Berliner Kliniken werden bis zu 50% der Patient*innen in die Obdachlosigkeit entlassen.“
Nicht zu fassen, denkt man da als „normaler“ 🙂 Mensch. Um sich sogleich zu besinnen: Natürlich, wohin auch sonst, wenn man die enormen Probleme im sozialen Wohnungsbau sieht … Dramatiken auf der Straße sozusagen. Und Susanne Heim würde ergänzen: Von der mangelhaften Kooperation zwischen „Drinnen“ und „Draußen“ ganz zu schweigen, denn die Einbeziehung der Angehörigen ist auch heute noch häufig mehr als zweifelhaft.
„Nur nicht bange machen lassen“ – ich muss nochmal an den Titel des Beitrags denken, den mir Susanne Heim schickte. Und ich denke, genau darum geht es auf der Tagung des Arbeitskreises Erwachsenenpsychiatrie: Ja, natürlich hat man sich mehr erhofft von der Psychiatrie-Enquete. Und, ja, es gibt einiges, was immer noch nicht klappt. Aber ich bleibe ja eine Verfechterin dessen, dass die Welt da draußen nicht so schlecht ist, wie sie manche malen. Es ist immer wieder kurz vor 12, das sicherlich.
Aber einen großen Teil unseres Lebens haben wir immer selbst in der Hand.
Deshalb nochmal zurück zu Susanne Heim und unser Telefonat. Wenn sie z.B. diesen wichtigen Satz sagt: „Man kann nur heilen, was man spürt.“ Und sie schon für sich in Anspruch nimmt, in ihrem Alltag doch einiges bewirkt zu haben. Als ich versuche ihr zu erklären, wie immens wichtig doch genau das sei, was man im vermeintlich Kleinen bewirke, da wird sie stiller und ich fühle ihre Unsicherheit. „Wissen Sie“, sagt sie dann wieder resolut, „ich möchte auf keinen Fall eingebildet werden.“
Lächelnd verabschiede ich die Dame und lese, allein zurück am Schreibtisch, nochmal in ihrer Rede, die sie vor so vielen Jahren in Anlehnung an eine orientalische Devise hielt: „Wenn du eine hilfreiche Hand brauchst, suche sie am Ende deines eigenen Armes.“
